Ein Gespräch mit Miriam Wolframm,
Vorständin der Stadion-Genossenschaft des FC St. Pauli.
Es gibt Orte, an denen Fußball zur Nebensache wird und genau darin liegt ihre Bedeutung. Das Millerntor ist so ein Ort. Hier wird gespielt, gestritten, gefeiert und gedacht. Denn der FC St. Pauli steht seit Jahrzehnten nicht nur für Sport, sondern für Haltung. Und seit 2022 auch für ein Experiment, das weit über die Grenzen des Vereins hinausreicht: Die Gründung einer Genossenschaft, die das Stadion in die Hände der Gemeinschaft legt.
„Wir wollen beweisen, dass wirtschaftlicher Erfolg im Profifußball auch anders geht“, sagt Miriam Wolframm, 44, Vorständin der Stadion-Genossenschaft des FC St. Pauli. Ihr Satz fällt mit dieser ruhigen Entschlossenheit, die man spürt, wenn Menschen wirklich überzeugt sind. Für sie ist das Millerntor nicht nur eine Spielstätte, sondern ein Symbol: „Die Bundesliga ist die größte Bühne Deutschlands. Wir wollen sie nutzen, um Haltung zu zeigen und zu beweisen, dass Veränderung möglich ist, Schritt für Schritt. Nicht perfekt, aber besser.“
Dieser Anspruch – nicht perfekt, aber besser – zieht sich wie ein roter Faden durch die DNA des Vereins. Während andere Clubs ihre Profiabteilungen in Aktiengesellschaften ausgliedern, setzt der FC St. Pauli auf ein anderes Prinzip: Selbstverwaltung und Teilhabe. Die Genossenschaft ermöglicht Fans und Mitgliedern, Anteile zu erwerben und damit buchstäblich ein Stück des Stadions zu besitzen. „Uns war wichtig, dass möglichst viele mitmachen können“, erzählt Wolframm. „Deshalb haben wir ein Ansparmodell entwickelt. Viele haben sich den Anteil wirklich zusammengespart. Das zeigt, wie stark die emotionale Bindung ist.“
Dass der FC St. Pauli anders tickt, liegt auch an seinem Umfeld. Der Stadtteil ist kein klassischer Kiez, sondern ein Mikrokosmos aus Vielfalt, Lautstärke und Widerstand. „St. Pauli ist ein Viertel, in dem Menschen wohnen, die eine Meinung haben und die Dinge mitgestalten wollen“, sagt Wolframm. „Dieser Wille, Verantwortung zu übernehmen, prägt uns bis heute.“
Diese Kultur der Mitbestimmung zeigt sich in unzähligen Initiativen: Unterstützungsangebote für Menschen ohne festen Wohnsitz, Projekte für Kinder und Jugendliche, barrierearme Sportprogramme oder selbstverwaltete Fanräume im Millerntor-Stadion. St. Pauli ist damit weit mehr als ein Fußballverein – es ist ein sozialer Resonanzraum, in dem Engagement zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
In Peerspektiven sprechen wir bewusst von Nachhall(tigkeit), weil nachhaltiges Handeln erst dann Wirkung entfaltet, wenn es etwas bewegt, das bleibt. Für Miriam Wolframm bedeutet Nachhall vor allem eines: Weiterdenken statt Verwalten.
„Nachhaltigkeit ist für mich kein Status quo, den man einmal erreicht und dann abhakt“, sagt sie. „Es geht darum, sich ständig zu hinterfragen, weiterzulernen und offen zu bleiben. Wir wollen uns nie ausruhen, sondern immer wieder besser werden.“
Dieses Selbstverständnis prägt nicht nur die Struktur, sondern auch die Kultur des Vereins. St. Pauli will zeigen, dass Veränderung nicht in Projekten entsteht, sondern in Prozessen. Durch Menschen, die Verantwortung übernehmen, ohne auf Anweisung zu warten.
Doch lässt sich Haltung finanzieren? Wolframm lächelt. „Natürlich müssen wir wirtschaftlich stabil sein, aber unsere Werte sind nicht verhandelbar.“ Sponsorendeals, die nicht zur Haltung passen, lehnen wir ab, auch wenn es weh tut. Kein Wettanbieter auf dem
Trikot, keine Partnerschaften um jeden Preis.
„Unsere Haltung macht uns nicht schwächer, sondern stärker. Sie zieht genau die Partner an, die zu uns passen. Kommerz und Werte müssen sich nicht ausschließen, wenn man konsequent bleibt.“
Diese Konsequenz hat St. Pauli in den letzten Jahren professionalisiert. Der Verein wirtschaftet solide, wächst organisch und bleibt sich dabei treu. Wolframm bringt es auf den Punkt: „Wir leben in einem hoch kommerzialisierten Umfeld, aber Authentizität ist unsere stärkste Währung.“
„Wir wollen beweisen, dass wirtschaftlicher Erfolg im Profifußball auch anders geht. Nicht perfekt, aber besser.“
Auch beim Aufbau der Genossenschaft zeigte sich: Nachhaltigkeit braucht Strukturen, die Zugang ermöglichen.
„Ich war schockiert, dass man anfangs noch Formulare ausdrucken, unterschreiben und per Post zurückschicken musste“, erinnert sich Wolframm. „Das war Bürokratie wie 1970.“ Erst mit der Einführung einer digitalen Zeichnung Anfang 2024 wurde das Modell wirklich inklusiv. „Plötzlich konnten Menschen mit wenigen Klicks beitreten, das hat den Prozess enorm beschleunigt. Digitalisierung ist bei uns kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, um Beteiligung zu erleichtern.“
„Viele Entscheider:innen fürchten, dass sie Kontrolle verlieren. Aber in Wahrheit gewinnt man Vertrauen.“
Das Modell St. Pauli zeigt, dass Nachhaltigkeit nicht in Kennzahlen gemessen werden muss, sondern in Beziehungen – zwischen Menschen, Organisationen und ihrer Umwelt. Während viele Unternehmen Nachhaltigkeitsberichte veröffentlichen, hat FC St. Pauli Strukturen geschaffen, die Nachhaltigkeit institutionalisieren, indem sie Teilhabe ermöglichen.
„Keine Angst vor Mitbestimmung“, rät Wolframm. Viele Entscheider:innen fürchten, dass sie Kontrolle verlieren. Aber in Wahrheit gewinnt man Vertrauen.“ Dieses Vertrauen sei die eigentliche Währung zukunftsfähiger Organisationen – gerade in einer Zeit, in der Glaubwürdigkeit zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor werde.
„Mitbestimmung emotionalisiert.
Und Emotion ist das, was Menschen langfristig bindet.“
Denn Nachhall entsteht dort, wo Strukturen mitschwingen. Wo Mitarbeitende, Mitglieder oder Kund:innen sich nicht als Zielgruppe, sondern als Teil eines Ganzen verstehen. Die Genossenschaft des FC St. Pauli Stadions ist dafür ein Paradebeispiel: Sie bindet Menschen emotional wie ökonomisch ein.
Nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Für Unternehmen, Kommunen oder Organisationen, die heute über Sinn, Verantwortung und Zukunftsfähigkeit sprechen, steckt darin eine klare Botschaft: Nachhaltigkeit ohne Nachhall bleibt folgenlos.
Erst wenn Strukturen so gestaltet sind, dass Beteiligung wirklich wirkt, entsteht Resonanz. Diese Resonanz ist kein Selbstzweck. Sie verändert, wie Organisationen geführt werden, wie Entscheidungen fallen, wie Kommunikation funktioniert. In einer Welt, in der klassische Hierarchien bröckeln und Vertrauen zur knappen Ressource wird, bietet das genossenschaftliche Denken eine Alternative: Verantwortung als kollektiver Prozess.
FC St. Pauli beweist, dass sich Haltung und wirtschaftliche Stabilität nicht ausschließen. Dass sich Werte monetarisieren lassen, ohne käuflich zu werden. Und dass sich ein Verein, ein Unternehmen, eine Organisation in einer lauten Welt bewusst dafür entscheiden kann, leise, aber klar zu bleiben.
„Mitbestimmung emotionalisiert“, sagt Wolframm. „Und Emotion ist das, was Menschen langfristig bindet.“ Genau darin liegt der Nachhall, der bleibt – weit über den Stadtteil hinaus.
In fünf Jahren, so hofft Wolframm, wird das Millerntor nicht nur Heimat der Profimannschaft sein. „Ich wünsche mir, dass auch unsere ersten Frauen und die U23 hier spielen können. Vor dieser Kulisse, mit diesem Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein.“ Und vielleicht, so ihr Wunsch, folgen andere Vereine diesem Beispiel. Denn Nachhall bedeutet auch: Spuren zu hinterlassen, denen andere folgen.
Kurzvorstellung Autorin Lara Busch
Lara Busch ist Kommunikationswissenschaftlerin Unternehmerin und Chief Marketing & Communications Officer bei Superpeers eG. Als Expertin für strategische Kommunikation berät sie Unternehmen an der Schnittstelle von Strategie, Kommunikation und Wandel. Sie forscht an der Universität Leipzig zur polyphonen Unternehmenskommunikation und wurde als Young Professional des Jahres (PR Report, 2022) sowie #NextInLine Sustainable Communicator (Global Alliance, 2024) ausgezeichnet.
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