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Marken als Architek­turen des Wirklichen

Von der Nachhaltigkeitsrhetorik zur Gegenwartsfähigkeit

Nachhaltigkeit bewahrt, Zukunftsfähigkeit vertröstet – doch beides verschiebt Verantwortung. Die eigentliche Schwelle liegt im Hier und Jetzt. Gegenwartsfähigkeit bedeutet: Nicht vom Morgen zu reden, sondern Wirkung sofort spürbar zu machen. Marken, die dies begreifen, sind keine dekorativen Logos mehr, sondern Systeme, die Wirklichkeit formen – ökonomisch, kulturell, sozial.

Sie tun dies, ob wir es wollen oder nicht. Jede Handlung, jedes Signal, jede Gestaltung schafft Resonanz. Darum reicht es nicht, Marken moralisch aufzuladen. Es braucht Verantwortung by Design: Prozesse, die Folgen sichtbar machen, Entscheidungen, die Rechenschaft zulassen. Verantwortung ist kein Zusatz, sondern die Praxis, die im Moment wirkt.

„Marken sind keine Zeichen, sie sind Systeme.“

Doch Verantwortung allein bleibt fragil. Erst Verbindlichkeit verwandelt Marken in Infrastrukturen – Strukturen, die nicht nur Märkte bespielen, sondern Lebenswirklichkeit tragen. Google, Apple oder Meta zeigen, dass Designsysteme längst gesellschaftliche Standards setzen. Infrastrukturen schaffen Orientierung, bergen aber auch Abhängigkeit. Deshalb stellen sich Fragen nach Legitimität und Governance: Mit welchem Recht dürfen Marken Ordnungen bauen, und wie werden diese Regeln überprüfbar?

Marken können Freiheitsräume eröffnen, wenn sie Macht teilen, Mitsprache zulassen, Transparenz leben. Dann werden sie zu Kulturtechnologien, die nicht nur Produkte vertreiben, sondern Lernräume stiften. Marken lehren uns – durch Routinen, Codes, Interfaces –, wie wir handeln. Diese Pädagogik ist ambivalent: Sie kann befähigen oder manipulieren. Erst Reflexivität, Kritik und Transparenz machen Marken korrigierbar – und damit glaubwürdig.

Doch im Anthropozän wird das noch dringlicher. Marken sind Mitarchitekten der Erde. Jede Entscheidung prägt Ressourcen, Ökosysteme, kulturelle Routinen. Es reicht nicht, Verantwortung zu versprechen – sie muss strukturell eingelöst werden, sichtbar, überprüfbar, begrenzt.

Am Ende bleibt die offene Frage: Wollen wir diese Macht den Marken anvertrauen – oder andere Formen finden, solche Infrastrukturen jenseits ihrer Logik zu schaffen?

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Marco Krasemann 1x1

Kurzvorstellung Autor Marco A. Krasemann

Marco A. Krasemann arbeitet als Stratege und Designer und ist Lehrbeauftragter für Visuelle Kommunikation an der Hochschule Hannover. Seit über 30 Jahren begleitet er Unternehmen in Marken- und Transformationsprozessen. Sein Fokus liegt auf multisensualer Markenführung – der Verbindung von Strategie, Gestaltung und emotionaler Markenerfahrung.

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